Dem eigenen Leben Tiefe geben

Beileibe kein 08/15-Thema … Ich hörte mich vor kurzem auf einer Infoveranstaltung sagen, der Zweck des Integralen Coachings bestünde darin, das Eigene aus einer möglichst großen Tiefe heraus zu tun … oder anders „gefragtsagt”: Wir können jederzeit messen, wie lange wir schon (in Jahren) gelebt haben – aber wie schwierig wird es bei der Frage:

„An wie vielen Tagen waren wir denn so richtig lebendig?”

Was heißt zum Himmel die Tiefendimension des Lebens? Wann und warum erleben Menschen ihr Dasein, ihr Leben als „tief-sinnig”? Warum leiden wiederum andere Menschen daran, wenn ihr Leben an Sinn und Tiefe verloren hat?

Ich möchte einmal mit dem Gegenteil zur Abgrenzung beginnen. Das würde ich als oberflächliches 2D- Leben, als innere Leere bezeichnen. Man spürt es an dem schleichenden Gefühl: Irgendwie fühlt sich das alltägliche Leben hohl, schal, sinnlos usw. an, obwohl möglicherweise ganz viel passiert, man ja sogar superaktiv ist. Der Terminkalender ist übervoll, aber irgendetwas fühlt sich ziemlich leer an. Sie ahnen vielleicht schon die Nähe zu einem meiner momentanen Lieblingsthemen, der Entfremdung, oder?

Wie heißt es so schön:

Das Leben braucht Wurzeln u n d Flügel. Deshalb der Hinweis: Dieser Text ist als ein leidenschaftliches Plädoyer für Tiefe gemeint und eben keines gegen Oberfläche. Leben braucht beides! Sogar das lebendige Pulsieren dazwischen – und egal wo ich gerade bin, mit dem Kontakt zu jeweils anderen Seite. Wie eingeschränkt wären die Erfahrungen des Meeres, wenn man nur die Wasseroberfläche kennen würde und wie einseitig wäre es, immer nur untergetaucht zu sein?

So, nun werde ich mich daran versuchen, Ihnen mein Gefühl zur Tiefe nahezubringen. In Kladde schreibend gesagt, hat es für mich etwas mit intensivem Lebensgefühl zu tun. Mein Alltag, mein Tun (und sei es noch so banal) fühlt sich dann sinnvoll an. Es macht satt, befriedet, macht das, was ist, einen guten Nachklang oder Nachgeschmack hat oder bekommt.

Tiefe ist eine Art innere Haltung, die es mir ermöglicht, zu anderen, der Welt usw. eine besondere Beziehung, Nähe herzustellen oder z.B. aus dem Angebot eines small talks plötzlich an entscheidender Stelle nachzufragen und für mich und mein Gegenüber entsteht (wie aus dem Nichts heraus) ein besonderer Moment.

Man könnte Tiefe auch als Bewusstsein bezeichnen, als inneren Kontakt zur Seelenrealität, die sich durch Berührbarkeit, Schönheit, Feinheit und Stille auszeichnet. Momente davon kennt vermutlich jeder, aber wie gefühlt sinnhaft wäre es denn, daraus eine Bewusstseinsstufe zu entwickeln, die nahezu immer anwesend ist? Ganz handfest gefragt: Wie sehr könnte davon ein gutes Leben und auch äußerer Erfolg abhängen?

Ich kann Ihnen leider keine Anleitung für die Entwicklung von Tiefe geben! Wie entwickelt man persönliche Reife? Aspekte, die meiner Meinung eine Rolle spielen könnten, wären beispielsweise:

  1. Das Thema Berufung, im Sinne von wesensgemäßem Dranbleiben an sich selbst. Im andauernden Beantworten der Schicksalsfrage: Wie bin ich gemeint?

  2. Sinn. Wie gut gelingt es mir, auf dem Hintergrund dessen was gerade ist, für mich Sinn zu schöpfen?

  3. Wie ist mein Selbstverständnis? Bin ich nur dieses denkende Etwas mit dem Etikett „Ich” oder kann ich mich mir auch in einem größeren Wirkungs- oder Sinnzusammenhang vorstellen?

  4. Wie großklein ist mein Vertrauen auf transpersonale Zusammenhänge? Gibt es (für mich) so was wie Seele? Wie ist es um meine Offenheit beispielsweise gegenüber Inspiration und Intuition bestellt?

  5. Kann ich mich – auch langfristig – auf für mich wichtige (innere) Kernwerte ausrichten? Wie gut kann ich auf schnelle Bedürfnisbefriedigung verzichten? Womit identifiziere ich mich, über welche Inhalte kreiere ich meine Identität?

  6. Wie offen bin ich im Kontakt zu Veränderung und Wandel? Schaffe ich es Selbsterhalt und Selbstaktualisierung in ergänzende Balance zu bringen?

  7. Wie gut gelingt es mir, mich in den Falten meiner Schrägheiten und Eigenarten anzuERkennen?

  8. Wie wichtig ist mir Da-sein, nicht nur von Moment zu Moment darum ringend, sondern auch generell als Ausdruck von innerer Lebendigkeit, die aus mir heraus ins äußere Leben möchte? Ist Leben für mich so etwas wie eine andauernde Pilgerreise?

  9. Wie gut bekomme ich es im Alltäglichen hin, innere Ansprüche und äußere Erfordernisse in möglichst große Übereinstimmung zu bringen.

Natürlich gibt es noch ganz viele andere Aspekte …keine Frage.

Schließen möchte ich heute mit einer kleinen Analogie, die uns bei einer Projektbesprechung fand (danke Christoph): Es könnte vielleicht darum gehen, eine Art feinspüriger Tresorknacker im Hinblick auf die eigene innere Schatzkammer zu werden. Jemand, der so still werden kann und feinfühlig das Tresorschloss spürt und genau hört, wenn das Räderwerk den Zugang freigibt. Und dann „Sesam öffne dich” öffnet sich die Tür zum eignen inneren Schatz …

Ich freue mich schon jetzt auf Ihre Meinungen und ergänzenden Hinweise und ggf. auch tiefsinnigen Widersprüche. Schreiben mir einfach eine Mail. Wenn es mir möglich ist, antworte ich auf Ihre Nachricht. Vielen Dank.


Ihr
Jürgen Weist