Die drei Gesichter der Entfremdung…

Was ist eigentlich Entfremdung oder Entwurzelung und woran würde man diese Tendenz überhaupt erkennen?

Sehr vereinfacht gesagt, ist Entfremdung sowas wie, man ist nicht mehr ganz man selbst… eine grundlegende Spaltung der Seele. Prozesse wie Erziehung, Prägung bzw. Sozialisation hinterlassen ihre Spuren in unserem Nervensystem.

Von dem Potenzial, mit dem wir auf die Welt kommen, wird manches bestätigt und gefördert und manches wird unterdrückt und verhindert. Das Relief, das dann entsteht oder übrigbleibt, nennt man Persönlichkeit… und mit dieser identifizieren wir uns im Laufe der Zeit. Wir glauben dann, wir sind „das“ oder eben „so“.

All´ das ist letztlich ein Anpassungs-Prozess an die jeweilige Welt, in der wir leben und diesem Prozess können wir nicht entkommen.

Kennzeichnend für ein Phänomen wie Entfremdung oder Entwurzelung (und was man auch immer darunter versteht) sind insbesondere drei Bereiche:

  1. Ich gehe weg von mir selbst (verleugne bestimmte Persönlichkeitsanteile von mir selbst oder habe keinen bewussten Zugang mehr dazu).

    Das merkt man insbesondere dann, wenn einem in bestimmten Situationen bestimmte Qualitäten scheinbar fehlen. Mich beleidigt jemand und ich kann beispielsweise überhaupt nicht wütend werden oder es geht anderen schlecht und ich merke, wie ich überhaupt kein Mitgefühl mehr entwickeln kann.

  2. Ich gehe weg aus dem Jetzt (ich verliere mehr oder weniger den Verlust zur Gegenwärtigkeit oder mein unmittelbarer Realitätsbezug ist eingefärbt).

    Hier wird es wenig komplizierter oder: Ich sehe quasi, was ich denke. Bin in der Vergangenheit oder Zukunft unterwegs. Erwartungen, Befürchtungen oder Hoffnungen färben ständig meine Sicht der Dinge ein.
    Ich nehme nicht mehr wahr was ist, sondern bevorzuge (m)eine bestimmte Sichtweise. Ist meine Einstellung, die Welt müsste rot sein, dann freue ich mich, wenn es so ist, wie ich erwarte oder ich leide, wenn die Welt dann doch mal Blautöne zeigt. Richtig anspruchsvoll wird dies, wenn ich glaube, dass meine Sichtweise die einzig Wahre ist. Das grenzt dann an Fundamentalismus…

  3. Ich gehe weg aus dem großen Ganzen (ich verliere das Gefühl der Einbettung ins Leben, mein Urvertrauen).

    Psychologisch nennt man das u.a. die Objekt-Subjekt-Trennung.
    Ich und das Leben, die Natur, die anderen sind irgendwie nicht Ich. Ich bin ein getrenntes Wesen mit allen Konsequenzen und Nöten, die aus einem solchen Erleben resultieren. Fazit hier kann sein, dass ich quasi um´s Überleben gegen alles und jeden kämpfen muss. Das Leben wird zu einem unfreundlichen Ort. Angst, Verzweiflung und Einsamkeit werden zu ständigen Wegbegleitern, die immer mal wieder an die Tür des Bewusstseins klopfen.

Schaut man derzeit in die Welt, so könnte man meinen, dass Entfremdung oder Entwurzelung zunehmen.

Nöte und Konflikte aller Art, Anpassungsdruck, Stress sind Rückenwind für diese Art von Entwicklung. Digitalisierung, Onlineverfahren und Social Media tragen ihren Teil dazu bei.

Leben findet immer mehr aus zweiter Hand statt…

Was bräuchte es?

Vielleicht sowas wie mehr Menschlichkeit.
Oder als Haltung: Leben und leben lassen.
Prozesse, Entwicklungen, Technologien, die den Menschen dienen statt umgekehrt.

Und als Aufforderung: Das beginnt bei jedem von uns selbst. Wo sonst?

Wenn wir das Leben in uns nicht lieben und wertschätzen, dann wird uns dies auch im Außen nicht gelingen. Es braucht Menschen, die aus der Entfremdung ins Leben zurückkehren, in vielleicht das, was die Bewusstseinsforscher das postkognitive Bewusstsein nennen.

Mögen meine Worte Sie berühren… etwas in Ihnen anklingen lassen. Danke.

Herzlichst
Ihr
Jürgen Weist