Sich in Vorstellungen über´s Leben verlieren

Für diesen Beitrag möchte ich einen zweifachen Einstieg nutzen…
Einerseits begegnen mir im Moment viele Menschen, die über Umstände in ihrem Leben klagen, darunter wirklich leiden und nach Möglichkeiten suchen, etwas zu verändern.

Anderseits war ich gerade (mal wieder) auf einer Fortbildung. Dort bin ich – auch mal wieder – in die Welt der provokativen Therapie von Frank Farrelly eingetaucht. Im Nachklang zum Seminar habe ich ein paar alte Artikel von Frank durchgeschmökert. Die lagen schon locker 17 Jahre in meinem Bücherschrank … und dann passierte es. Beim Durchlesen kam der ein oder andere Seufzer und ein AHA-Moment folgte dem nächsten. Was war so spannend?

Die Artikel bezogen sich auf Versuche anders und erfolgreich mit Schizophrenen, also Insassen psychiatrischer Kliniken umzugehen. So wie ich es verstanden habe, hatte Frank Farelly die folgende durchaus provokante These:
Ein großer Teil der Patienten war, trotz anders lautender Bekenntnisse, tatsächlich daran interessiert, in der Klinik zu verbleiben. Gründe dafür: Angenehmes Leben (alle Grundbedürfnisse werden ausreichend gesichert, professionelle Zuwendung erfolgt, man kann alle Zustände ausleben, weil man ja das Prädikat verrückt hat u.v.a.m.). Frank erlebte die Patienten auf einer gewissen Ebene als Profis, die sich gegen wirkliche Veränderung ihrer Situation erfolgreich wehrten.

Er bildete dies in fünf Annahmen ab:

  1. Patienten können ihre Verrücktheit benutzen, um Kontrolle über Mitmenschen und Situationen zu erlangen.

  2. Sie haben einen unbeugsamen Willen und sind wild entschlossen, ihn auch durchzusetzen.

  3. Eine der grundlegenden Schwierigkeiten bei der Gesundung ist nicht der Mangel an Motivation, sondern vielmehr ihre hartnäckige Motivation, im Hospital zu bleiben.

  4. Psychische Erkrankung und Hospitalisierung zahlen sich für die Patienten in vielfacher Weise wirkungsvoll aus.

  5. Patienten beweisen ein „instinktives Geschick“, wenn es darum geht, bestimmte Reaktionen auf Seiten des Personals, der Familie und Gesellschaft zu provozieren, die ihre fortgesetzte Hospitalisierung und die damit verbundenen Vorteile garantieren.

Verrückt, oder? Vielleicht kommt in Ihnen jetzt die Frage auf: Was hat das mit mir zu tun? Ich bin doch normal und die meisten Menschen, die ich kenne, leben ja außerhalb einer Klinik.
Dazu ein großes „ABER“ meinerseits. Bei mir selbst und bei den meisten meiner Klienten entdecke ich Züge, die ich die „kleine Schizophrenie des Alltags“ nenne. Die Dame, die im Job in den Burn-out treibt, aber meint, dort bleiben zu müssen, weil es sonst kein Überleben gibt … außerdem sei es ja so bequem und nur so könne sie ja in Urlaub fahren. Ein anderer Klient, der meint, wenn er nur die richtige Partnerin fände, dann wäre er nicht mehr so unglücklich. Aber der Beziehungsstress … Jede Menge innerer Widersprüche, Ambivalenzen, Konflikte usw. Viele Seelen, ach, wohnen in unserer Brust…
Alle diese guten Menschen möchten ihr Leben wirklich zum Guten verändern. Aber: Wenn wir das versuchen, sind wir oft wie Brummer, die neben dem geöffneten Fenster gegen die geschlossene Scheibe fliegen … wieder und wieder.
Ob es um Umstände geht, das Verbleiben in ungeliebten Jobs oder Beziehungen usw. Oft lautet die Doppelbotschaft: Ich will ja, aber … (oder negativ: Ich kann nicht, möchte aber …)

Was passiert da eigentlich mit uns?
An bestimmten (geschwächten) Stellen erfahren wir uns aus gutem Grund als eine Art Opfer. Klagen an … haben Begründungen, warum was nicht geht, erzählen uns seit langem immer wieder die gleichen Geschichten. Verzehren uns in Hin-und Her-Bewegungen, kommen aber nicht wirklich von der Stelle… statt … in die eigene Verantwortung zu kommen (übrigens auch eine These Frank Farrellys).

Was oft da ist, wenn wir ehrlich hinschauen:
Ich will nicht, will das (Risiko) nicht leben, bleibe in sicheren Bedingungen (wie einer Klinik, Beziehung, Job) und leide und klage… und wenn was ginge, sich eine mögliche Veränderung abzeichnet, sich eine Tür öffnet… dann habe ich wohlfeile Begründungen, warum es gerade nicht geht.

Was bräuchte es?
Vielleicht ein Wechsel von der Ohnmacht in die Eigenmacht. Anders gesagt: Erwachsen werden. Verantwortung übernehmen, ins tatsächliche Handeln kommen. Beliebt sind solche Botschaften nicht. Wie sagte eine Klientin: Da stellt sich die Frage, wie lebe ich eigentlich? Ja, ganz genau! Ja, die dann entstehenden Antworten sind manchmal nicht nur angenehm. Aber …und aus dieser Klarheit, Entschiedenheit zu sich selbst, Leidenschaft zum eigenen Leben erwächst ihnen eine Kraft und Orientierung, die grundlegend hilft. Ich nenne es, sich wieder in die Fülle seiner Kraft stellen, sich die eigenen archaischen Lebenskräfte wieder zugänglich machen. Ohne diese fehlt uns der innere Halt und die Kraft, um gegen die Anforderungen des Alltags auf Dauer erfolgreich zu bestehen. Angstvoll, überfordert, verzweifelt strengen wir uns dann an …
Wie dieses ungleiche Ringen ausgeht, das wissen Sie vermutlich selbst. Wenn nicht, dann schauen Sie sich im Alltag um.

Zum Abschluss: Wie sind Ihre Reaktionen auf meinen Text? Ablehnend oder zustimmend? Eins ist so gut wie das andere.
Wenn Sie mein Text bewegt, dann hat Sie da vielleicht etwas angesprochen. Schauen Sie sich die Conzendo–Angebote noch einmal genauer an, buchen Sie ein (Telefon)Coaching, besuchen unseren kostenlosen Infotag oder Gott weiß was. Wenn Sie eine Ahnung haben, um was es da (für Sie ) gehen könnte, kommen Sie ins Handeln. Raus aus der Ohnmacht …rein in die Eigenmacht oder anders gesagt: Werden Sie vom Opfer zum Gestalter bzw. Gestalterin.

Ich freue mich schon jetzt auf Ihre Meinungen und ergänzenden Hinweise und ggf. auch Widersprüche. Schreiben Sie mir einfach eine Mail. Wenn es mir möglich ist, antworte ich auf Ihre Nachricht. Vielen Dank.

Leidenschaftlich provokante Grüße

Ihr
Jürgen Weist