Sich in Vorstellungen über´s Leben verlieren

Ich steige heute einmal anders ein … erstens mit einer (für mich) hochbrisanten These und dann mit einem kleinen Experiment zur Selbsterfahrung. Sind Sie bereit?

Zum Start die These:
Die meisten Menschen leben nicht in der Gegenwart, erfahren sie so gut wie nie, sondern sind mehr oder weniger in einer andauernden (Kino)Vorstellung davon verloren gegangen…

Das Experiment (Warnung, die Wirkung könnte ernüchternd sein …):
Nehmen Sie sich 3 Minuten Zeit. Setzen sich irgendwo hin (Ruhe hilft!). Nehmen Sie genau und detailliert wahr, was in Ihrem Gesichtsfeld, Ihrem visuellem Feld sichtbar ist. Lassen Sie sich Zeit und vergegenwärtigen Sie sich genau, was Sie sehen können. Dann schließen Sie Ihre Augen und versuchen – so gut es geht – das vorher Gesehene in der Vorstellung auftauchen zu lassen. Lassen Sie sich auch da einen Moment Zeit …
Dann öffnen Sie wieder die Augen und verdeutlichen Sie sich jetzt den Unterschied zwischen dem Bild in Ihrer Vorstellung und dem, was Sie tatsächlich sehen.
Keine Ahnung, was Sie erfahren, aber ich habe die Übung wiederholt und wiederholt. Ein wesentlicher Effekt bei mir ist, dass die Wirklichkeit von der Vorstellung (Erinnerung) erheblich abweicht.

Meine Hypothese ist, dass diese Erfahrung auf Vorstellungen, Erinnerungen usw. übertragbar ist. Sprich, nur die gegenwärtige sinnliche Erfahrung bietet mir maximale Informationen. Erinnerungen, Vorstellungen usw. ist meist nur ein reduzierter Ausschnitt der ursprünglichen Erfahrung. Sozusagen ein (emotional eingefärbter) lauer Abklatsch.

Zurück zum eigentlichen Thema …
Warum verlieren sich denn so viele Menschen in ihren Vorstellungen? Und warum ist das überhaupt tragisch? Und wenn, wie findet man den Ausgang aus dem sogenannten Kopfkino? Gibt es überhaupt einen Exit?

Dafür gibt es vermutlich eine Reihe von guten Gründen. Eine höchst banale Antwort wäre: Weil Sie es können … das Universum hat uns als Spezies mit Reflektionsvermögen ausgestattet.
Wir können denken und abstrahieren. Wir können andere Dinge und Erfahrungen mit (übergeordneter) Bedeutung belegen. Aber manchmal scheint es mir so, als hätten wir vergessen, dass dies kein Zwang ist. Zu wissen, ich trinke Rotwein, einen teuren Spanier der Rebsorte Tempranillo und der Verkäufer hat gesagt, der sei exzellent, sollte mich nicht von der direkten Erfahrung des Trinkens und Schmeckens trennen. Und wenn es eine Diskrepanz zwischen Bedeutungsinformation und direkter Erfahrung gibt, wem traue ich dann? Meiner unmittelbaren sinnlichen Erfahrung oder abstrakten Informationen? Meine derzeitige Lieblingsthese für´s Verlieren ist: Vorstellungen scheinen das Leben zu erleichtern, kosten uns weniger (z.B. Aufwand) …usw. Ein wenig so, als würden wir eine unpassende Wirklichkeit „aufpeppen“, in dem wir quasi eine 3-D-Phantasie-Brille aufsetzen, die uns ein angenehmeres, bequemeres Bild vermittelt. Das Tier in uns will sich gut fühlen … das Ziel an sich ist akzeptabel, die Umsetzung via fester Vorstellung jedoch kostet uns unsere Lebendigkeit. Hollywoodfilme wie „Matrix“, der „Avatar“, „Ready player one“ beschreiben diese Realität eindrücklich.

Warum ist das Verlieren in Vorstellungen tragisch?
Natürlich ist es nicht nur tragisch, übertrieben könnte man sagen, Drogen nehmen ist ja auch nicht nur schlecht …
Will sagen, hinter der Aussage steckt natürlich (m)eine Bewertung.
Ein Bild dazu: Watzlawiks Geschichte vom Hammer.
Die drückt eigentlich komprimiert die Essenz aus. Es kann halt ziemlich schnell zu recht dramatischen (und oft skurrilen und absurden) Ergebnissen führen, wenn Vorstellungen unsere Wahrnehmung, unser Erleben und Handeln (zu sehr) beeinflussen. Angemessenheit geht verloren und ein Gefühl dafür, was passt. Feine Gleichgewichte, tragende Beziehungsnetzwerke, Ausgewogenheit usw. werden beeinträchtigt oder gehen gänzlich verloren … ich bilde mir ein, dass Medien immer öfter von solchen Entwicklungen auch auf höchster politischer und gesellschaftlicher Ebene berichten, oder wie erfahren Sie das?

Gibt es einen Exit, einen Ausgang aus dem Kopfkino?
Wir behaupten mal „ja“. Psychologisch nennt man diesen Vorgang „De-Identifikation“, quasi die Lockerung und Loslösung von Bezugspunkten. Anders gesagt, ist es Bewusstseinsentwicklung. In Lebenshilfebüchern nennt man das dann „Loslassen“ … aber leichter gesagt, als wirksam getan. Nach unseren Erfahrungen ist es ein Reifeweg, weg von einem eher engen Selbstbewusstsein, das massiv an irgendwelchen Haltepunkten festhält, hin zu einer eher flexiblen Identität, die ihren Halt in einem tiefen (durch Erfahrungen begründeten) Selbstvertrauen gründet. Und mit tief meinen wir wirklich tief, nicht irgendwelche oberflächlichen Rollen, Berufsbilder oder Qualifikationen. Und wenn ich das noch mit ein paar wenigen Wermutstropfen garnieren darf: Nicht alle Menschen haben Bock auf diese im Sinne des Wortes herausfordernde Entwicklung! Vorstellungen sind verführerisch, enorm schnell austauschbar, leichter und gewissermaßen viel viel angenehmer … (s. Beispiel 3-D-Brille und virtuelle Realität).

Beenden möchte ich diesen Beitrag jedoch anders. Es scheint einen wesentlichen Grund zu geben, Vorstellungen als solche zu erkennen, intelligenter/ kultivierter damit umzugehen, darüber hinauszuwachsen und die Momente gegenwärtigen Lebens bewusst zu genießen. In jedem von uns (so möchte ich behaupten) gibt es eine „Instanz“, die ziemlich genau wahrnimmt, ob wir in einer Vorstellung (fest)hängen oder uns dem Leben unmittelbar aussetzen. Ist das Letztere (auch annäherungsweise) der Fall, bekommt unser Leben einen ganz besonderen Geschmack … (wissen Sie, was ich meine?).

Sicher haben Sie selbst auch schon viele gute Ideen und Erfahrungen gesammelt. Wenn Sie Lust haben, so schreiben Sie mir gern, was Ihnen zu dem Thema so durch den Sinn geht, welche Erfahrungen Sie gesammelt haben und welche Tipps aus Ihrem Erleben entstanden sind. Auch Fragen sind mir sehr willkommen …

Herzlichst
Ihr
Jürgen Weist