Welche zentrale Bedeutung hat das Fühlen?

Ich bin mir bewusst, dass in unserer Kultur, ja in unserem Land, dem Land der Dichter und Denker, das Denken eine gewisse Bedeutung hat. Ich habe schon viel über das Denken geschrieben und bin immer noch der Meinung, dass die menschliche Fähigkeit des reflektiven Unterscheidens eine grandiose Kompetenz ist, die unsere Spezies entwicklungstechnisch weit nach vorn gebracht hat. Aber ist das Denken wirklich der absolut überlegene Akt, für den er gehalten wird?

Oder besser anders gefragt: Wenn Denken und Fühlen ohnehin andere Modalitäten des gleichen Geistes, des gleichen Bewusstseins wären, wozu braucht der Verstand dann das Gefühl?

Ein Aspekt, über den ich bzw. wir bereits oft berichtet haben, ist, das Denken ja meist einen unterscheidenden, trennenden Charakter besitzt. Das Fühlen im Gegensatz dazu, eine komplexe Einheit abbildet. Aber so interessant dieser Aspekt auch ist, so möchte ich heute auf einen anderen bedeutsamen Hinweis hinaus.

Was uns bewegt, berührt, anspricht, belegen wir – instinktiv – mit (höherer) Bedeutung. Was heißt das? In jedem Moment nehmen wir ja unzählige Aspekte (und Objekte) aus unserer Umwelt wahr. Das meiste dieser Wahrnehmung ist nicht einmal bewusst. Das Gefühl ist es, das aus dem Hintergrundrauschen der Umgebungswelt, der vielfältigen Information, die in jedem Moment auf mich einströmt, etwas für mich bedeutungsvoll hervortreten lässt.

Ich bin im Park, sehe andere Menschen, Natur in ihrer unendlichen Vielfalt und doch richtet sich mein Fokus auf diesen Hund, der in meine Richtung läuft. Was soviel heißt, mein Einfühlungsvermögen lässt die Dinge hervortreten, denen ich (bewusst oder unbewusst) persönliche Relevanz zumesse.

Sie sitzen in einem Restaurant und lesen die Speisekarte. Vor Ihrem inneren Auge ziehen die erwähnten Speisen (und Ihre Erinnerungen dazu) vorbei. Vermutlich wählen Sie (wie ich) das Angebot, auf das Sie gerade Lust haben.
War das dann eine Entscheidung? Doch eher nur, wenn es vergleichbar ähnlich attraktive Alternativen gab, oder?
Drehe ich diesen Aspekt um, dann wird es schwierig, etwas auszuwählen, wenn ich zu den verschiedenen Alternativen kein oder wenig Gefühl habe, oder?

Beispiel: Menschen kommen oft ins Coaching, stecken in unerwünschten Situationen, wissen aber (noch) nicht, was sie tun sollen oder wo es für sie hingehen könnte. Dann suchen sie meist nach einer Form im Außen. Ich will etwas Besseres, Passendes finden, heißt es dann. Aber meist ist nicht die inhaltliche Form dabei das Thema, sondern die (verlorene) Fähigkeit, zu spüren, was mich anzieht, was sich passend für mich anfühlt oder in welche Richtung es für mich geht? Das „Nichtkönnen“ funktioniert insbesondere dann besonders gut, wenn noch konservative Überzeugungen wie „Ich muss aber Geld verdienen“ usw. eine Rolle spielen.

Fazit: Das Fühlen ist nicht gut oder schlecht, es ist einfach eine hervorragende Informationsquelle für das persönliche Handeln. Das Gefühl zeigt mir, was für mich von Bedeutung ist oder nicht. Im Coaching beispielsweise ist es die Kompetenzebene, die mich spürend wissen lässt, okay, da liegen die möglichen „Knackpunkte“. Oder systemischer betrachtet: Das Gefühl lässt mich wissen, wenn ich mich so auf etwas oder jemanden beziehe, dann entsteht eben diese rückkoppelnde Wirkung (auf mich).
An dieser Stelle eingeflochten: Nicht nur durch die Corona-Phase ist das Einfühlungsvermögen jedoch eher auf dem Rückzug. Und wie beschrieben, hat diese zunehmende „Gefühlsblindheit“ zunehmende Auswirkungen auf Wahrnehmung, Erleben und Handeln der Menschen.

Unsere Empfehlung: Wertschätzen Sie Ihr Gefühl … es ist die Instanz, die uns von einer KI (Künstlichen Intelligenz) unterscheidet und die uns, so die Neurobiologen, wissen lässt, wo es für uns lang geht … mal abgesehen davon, dass Lebensgefühl und die meisten Zustände, nach denen Menschen trachten, emotionale Zustände sind.

Herzlichst
Ihr
Jürgen Weist