Zuwendung als Wirkprinzip

Zuwendung als Wirkprinzip, was soll das heißen?
Als Erklärungsmodell: Im Prozess der Bewusstwerdung durchläuft der Mensch u.a. die Phase der selbstgewissen Ich-Werdung (Individuation). Ein Preis dafür ist die Erfahrung von Getrenntheit. 

Menschen erfahren sich (überwiegend) als individuelle, voneinander getrennte Wesen. Auf der Erfahrungsebene der Getrenntheit ist es allerdings möglich, sich frei aufeinander zu beziehen und in Verbindung (Kontakt) zu treten. Die tiefste und intensivste Form dieser Verbundenheit nennen wir „Liebe“ oder Zuwendung.

Psychologisch gesehen ist die Individuation damit eine recht polare Geschichte. Ermöglicht sie auf der einen Seite individuelle, einzigartige und differenzierte Erfahrungen, so leiden wir gleichzeitig auch unter Trennungs-Effekten wie Einsamkeit, Angst und Verzweiflung.

Die Form der Beziehung, die wir Zuwendung nennen, kann hier eine ausgleichende und vor allem lösende Wirkung haben. „Lösend“ bezieht sich dabei auf verfestigte/ verhärtete Strukturen des Charakters (des Geprägten). Wir alle wissen, wie „Verliebtsein“ die Weltsicht (vorübergehend) verändern kann bzw. einfärbt…

Es geht aber auch anders…
In unterschiedlichen Kulturen und Geschichten findet sich das Märchen der Eiskönigin oder Eisprinzessin wieder. Dieses uralte mythologische Sinnbild steht für den Menschen, dessen Herz erkaltet und so das „Reich“ mit Eis überzieht und in dem das Leben erstarrt.

In verschiedenen Variationen wird die Eiskönigin oder Prinzessin dann durch Mitgefühl oder die Liebe erlöst. Die Vereisung schmilzt und das Königreich erwacht wieder zum Leben… alles blüht und gedeiht. Das vielleicht als Andeutung darauf, dass es sich um ein uraltes, zutiefst menschliches Thema handeln könnte… welches man auch Entfremdung, Verhärtung oder Ich-Bezogenheit nennen könnte. 

Letztlich geht es (in unserem Jargon) um ein überwiegend egozentrisches Bewusstsein.
„Me first“… in all` seinen Schattierungen…

Zurück zur Lösung oder wie könnte Zuwendung wirken?

Es geht um sowas wie ein Umkehrparadoxon:
Ist man charakterlich (warum auch immer?) verhärtet, so geht es um eine emotionale Öffnung, ein Weichwerden, kindhaft Berührbar werden, um Hingabe, um Mitgefühl, Verletzbarkeit, Leidensfähigkeit und vielleicht letztlich um Unschuld.

Kurioserweise um all` das, dem der nach Kontrolle strebende, konventionelle Mensch generell zu entkommen sucht. Oder was er beherrschen und kontrollieren möchte, ohne, dass dies bisher wirklich gelungen wäre…

Und das beschreibt – jedenfalls abstrakt – auch das Was und Wie dieser Umkehr.
Emotional und mental aus der Verhärtung kommen, ist einfach, aber eben nicht immer leicht. Oder anders vielgesagt: Weichwerden ist manchmal durchaus harte „Arbeit“. Auch weil Weichwerden eben nicht ein zusammensackendes „Kollabieren“ bedeutet…

Wie nun wieder weicher werden? Beweglicher, durchlässiger?

Eine umfassende Beschreibung würde naturgemäß den Rahmen eines Newsletters sprengen. Ein paar hingeschriebene „(Nach)Schlagworte“ wären:

  • In der dunklen Ecke sowas wie Schuld anschauen.
    Wo habe ich anderen wirklich etwas angetan?
    Wo wäre Scham, vielleicht Reue angesagt?
    Im Übergang vielleicht Kränkungen reduzieren. Eigene und die anderer.

  • In der hellen Ecke könnte man Dankbarkeit, Mitgefühl und Empathie üben.
    Möglicherweise all` das, was die eigene Empfindungsfähigkeit tieft.
    Ein guter Anfang könnte sein, sich in Güte und Wohlwollen zu üben, mehr wertschätzende Worte über die Lippen zu bringen.

Ich weiß… nicht einfach in einer Welt, die zunehmend verhärtet scheint.
Härte ist starr, nicht stark. Unempfindlichkeit schadet mehr als sie hilft.

Nur die bewegliche, nachgebende Weide kann den Schnee abwerfen, der auf ihr lastet. Der starre Baum bricht… Und wo wir schon bei den Sinnbildern sind, der Schnee der dann fällt und schmilzt… wird wieder zu fließendem Wasser.

Also, wenn das nichts mit Zuwendung zu tun hat, dann… 🙂

Herzlichst
Ihr
Jürgen Weist